Märchen des Monats November

Die Weisheit der Welt
Ein Ashanti-Mythos, erzählt in Westafrika. Übersetzt aus „Anansi and the Callabash of Wisdom“, 2001 Terry Hancock:
„Vor langer, langer Zeit lebte eine schlaue Spinne namens Anansi. Anansi wollte weise sein, tatsächlich entschied er sich, die ganze Weisheit der Welt zu sammeln!
Wissend, selbst wenig zu wissen, stellte er sich die Aufgabe, Wissen zu erlangen. Er bereitete eine Kalebasse vor, um das Wissen aufzubewahren. Er zog los und befragte alle Leute nach ihrem Wissen. Manchmal musste er dafür bezahlen, manchmal hat er sich das Wissen auch ergaunert. Aber normalerweise gaben ihm die meisten ihr Wissen preis, da eine Spinne mit solch einer großen Aufgabe viel weiser als sie selbst sein müsste.
Nachdem er lange Zeit mit dem Sammeln verbracht hatte, hatte er die Weisheit der ganzen Welt in seiner Kalabasse und dachte sich: „Ha ha, jetzt bin ich der klügste von allen! Jetzt muss ich ein gutes Versteck finden, damit niemand das Wissen findet und ich für immer der Klügste bleibe!“
Er fand, in dem obersten Wipfel eines hohen Baumes, den nur eine Spinne erklimmen könnte, wäre das beste Versteck. Die vom Wissen schwere Kalebasse band sich Anansi mit einem Streifen Tuch um den Bauch und machte sich mit seinen acht Beinen auf, den Baum zu erklimmen. Doch die Kalebasse war ihm im Weg und so kam er nur bis zur Hälfte des Stammes. Ganz gleich, wie sehr er es versuchte, er scheiterte immer wieder und murrte schließlich frustriert in sich hinein.
Zu dieser Zeit kam sein kleiner Sohn und beobachtete ihn. Anansi war verärgert, in seiner hilflosen Lage ertappt worden zu sein.
Aber sein Sohn sagte einfach: „Warum bindest du dir die Kalebasse nicht auf den Rücken, Vater, so dass sie dir nicht im Weg ist?“
Anansi dachte nach. „Das könnte klappen.“ Und tatsächlich erreichte er auf diese Weise die obersten Wipfel des Baumes ohne Schwierigkeiten. Aber als seine Aufgabe erfüllt schien, fiel ihm auf, dass selbst sein junger Sohn weiser war als er!
„Man kann die ganze Weisheit der Welt nicht in einer Kalebasse verstecken!“ heulte er und schüttete in einem weiten Bogen ihren ganzen, mühsam gesammelten Inhalt über die Welt.
So geschah es, dass sich das Wissen auf der Welt verbreitete. Und Anansi fühlte, was Weisheit bedeutet.“

Märchen des Monats Oktober

Die Frau mit dem schwarzen Geißbock
Deutsches Märchen


Es war einmal eine alte Frau, die hat in einem ganzen kleinen, alten Häusle gelebt. Eine einzige Kuh hat sie gehabt, der haben die Rippen da so rausgeschaut – ein kleines Säule, ein paar Hennen und einen kohlrabenschwarzen Geißbock.
Die Leut, die haben sich denkt: die arme Frau, der ihr Häusle wird ja nur bloß noch von den Hypotheken zusammengehalten. Aber sie haben sich fei ganz falsch denkt, weil die Alt hat Geld wie Heu gehabt, und wenn die des Morgens die Kuh gemolken hat, der so die Rippen herausgeschaut haben: zwei Eimer voll Milch am Tag und die Hälfte davon bloß ein Rahm! Das Säule, so dürr wie’s war und bloß Eichele gefressen hat, wenn das geschlachtet worden ist – Trümmerschinken und Speckseiten nicht grad genug -- und von den Hennen hat jede am Tag zwei Eier gelegt.
Halt mal, bloß der Geißbock, der hat fei keine Blätter gefressen und kein Gras. Nein, der ist immer an den Küchenkasten hingegangen und da hat er sich rausgeholt, was ihm geschmeckt hat. Nach der Schnapsflaschen hat er auch immer recht geschleckt.
Am Abend, wenn die Alt, so hutzlig und krumm wie sie war, wenn sie ihre Fensterläden zugemacht hat und nach ihrem Häusle gegangen ist, da war die fei nimmer alt, da war’s eine schöne junge Frau – eine glatte Haut und dicke, schwarze Zöpf. Und der Geißbock, das war ein fescher Jäger. Und da haben sich die zwei die ganze Nacht gut gehen lassen in dem Häusle.
Lange Zeit ist das so weiter gegangen. Da ist einmal ein junges Bäsle von der Alten zu Besuch gekommen. Ein Madele wie Milch und Blut, blonde lockerte Haar, blaue Augen, Äpfelbäckle – so ein richtiges Posaunenengele.
Der Geißbock, der ist gleich immer so um das Madel rumscharwenzelt, hat’s ein wenig mit den Hörnern angeschubst und angemeckert. Und’s Madle hat sich denkt: Also, mei alte Basen, die ist ja nimmer im Kopf so recht beieinander, was lässt denn die das zottelige Viech im Haus herumrennen? Und dann hat’s gesagt: „Weißt was, morgen früh da geh ich wieder heim zu meine Leut.“
Mitten in der Nacht, das Madel hat in der Kammer im Bett geschlafen, wacht’s auf, steht da nicht ein junger Jäger vor ihrem Bett, und sie sagt: „Ja, wie kommst denn du da rein?“ Aber er macht: „Pst, pst, – net so laut.“ Aber das Madel sagt wieder: „Ja, wie kommst denn du da rein? Ich hab doch die Kammertür zugesperrt!“ „Pst, sei halt nedde so laut, es muß uns doch nicht gleich ein jeder hören.“ Aber da fängt das Madel doch wieder an: „Beim Herrgott und allen Heiligen!“
Da tut’s einen Schlag und einen Kracher! und das Madel schaut. Steht doch statt einem Jäger ein Geißbock vor ihrem Bett. Und schon kommt die Alte rein, sieht den Geißbock am Bett von dem Madele steh’n, packt ihn bei den Hörnern und sagt: „Marsch, naus mit dir in den Geißenstall, wo du hingehörst!“ Da tut’s noch einen größeren Schlag und einen ärgeren Kracher, und es wird stockfinster. Und bis das Madel ein Licht angezündet hat und schaut, da sieht’s: die alte Bas liegt mit einem umgedrehten Genick neben der Tür – maustot. Der Teufel hat’s geholt.
Weil, als eine junge Frau hat sie sich ihm verschrieben und drum ist er als ein Geißbock bei ihr geblieben. Und all ihre Lieb hat sie ein Leben lang an ihn verschwendet, aber die Eifersucht, das war ihr End.
Es sind ja schon nicht einmal andere treu - noch viel weniger fällt’s dem Teufel ein.

Märchen des Monats September

Der Glückliche und der Unglückliche
Märchen aus Estland


Es waren einmal zwei Bauern, die lebten nicht weit voneinander. Der eine war reich, der andre war arm. Der Arme war freilich auch ein fleißiger Arbeiter, aber dennoch wurde er nicht reicher, als er war.
Einmal ging er in der Nacht aufs Feld, um dort nachzuschauen, aber o Wunder - was sah er da! Er sah, wie ein Mann auf dem Felde des Reichen Roggen säte.
„Was tust du hier?“ fragte der Arme.
„Ich säe Roggen!“ war die Antwort.
„Nun, wann kommst du denn auf mein Feld säen?“ fragte der arme Mann.
„Niemals!“
„Weshalb säst du denn auf dem Felde des andern?“
„Ja, ich bin eben sein Glück.“
„Nun, wo ist denn mein Glück?“ fragte der Arme.
„Dein Glück schläft dort neben jenem großen Stein“, sprach der Sämann.
Der Arme eilte zum Stein, um sein Glück zu wecken.
„Höre, Mann, steh auf und geh Roggen säen!“
„Ich gehe nicht“, antwortete der Schläfer.
„Ja, warum gehst du denn nicht?“ fragte der Arme.
„Nun, ich bin doch eben kein Landwirtsglück.“
„Aber du bist doch mein Glück!“
„Ja, freilich“, sagte der Schläfer; „wähl dir nur ein andres Handwerk, dann werd ich schon dein Glück sein.“
„Was soll ich denn werden?“ fragte der Arme.
„Werde Kaufmann!“
Sogleich ging der Mann nach Hause, verkaufte sein Haus und eröffnete in der Stadt einen Laden. Nun bekam er sein Glück und lebt auch heute noch glücklich.